“Good afternoon teachers!”

Ich halte einen Moment inne, atme durch und zähle nach. Zwei-vier-zwei. Macht acht. Acht Kinder pro Reihe, sieben Reihen. Bis an die hintere Wand, wo zwei adipöse Jungs, breit grinsend, den Raum zwischen Tisch und Wand komplett füllen. Vier, fünf Stühle sind nicht besetzt. Macht 51 Mädchen und Jungen in einem Raum, in dem ein deutscher Schulleiter sich schämen würde auch nur 25 Kinder unterrichten zu lassen. Hinter mir auf der Schultafel stehen chinesische Schriftzeichen, deren Bedeutung sich mir nicht erschließt. Egal. Ein kleiner Junge mit Prinz-Eisenherz-Pony wischt sie mit dem Schwamm weg und taucht wieder hinter seinen Tisch. Die Ranzen haben die Kinder hinter ihrem Rücken auf die Stühle geklemmt. Der Boden ist zu schmutzig. Die Schulglocke, eine kleine Melodie, erklingt. Jetzt bin ich Lehrer. Lehrer für Englisch. Meine Schüler besuchen die dritte Klasse einer Schule für die Kinder von Arbeitsmigranten. Bis vor wenigen Jahren durften solche Kinder nicht mit nach Shanghai, wo ihre Eltern auf dem Bau, als Ayi oder wasauchimmer einen Job gefunden hatten. Zumindest durften sie hier nicht auf die Schule. Jetzt dürfen sie es und ich bin an der Huabolixinghang School einer ihrer Englischlehrer. Zwei dritte Klassen, jeweils eine Schulstunde jeden Dienstag.
51 Kinder springen auf. Sie tragen alle ein rotes Halstuch, von einem Button mit zwei stilisierten fröhlichen Kindergesichtern zusammengehalten. „Good afternoon, teachers!“ Wir sind zu zweit, Priti aus Mumbai ist die andere Freiwillige. „How are you?“, schreiebn die Kinder. „Fine!“, schreien Priti und ich wie aus einem Munde zurück. Obwohl ich eigentlich sprachlos bin. „And how are you!“ „Fine!“ 51 Kinder sitzen in ihre Winterjacken dick eingemummelt an ihren Plätzen, manche haben Fingerhandschuhe an. In Shanghais normalen Schulen wird im Winter nicht geheizt. Das Klassenzimmer ist, euphorisch beschrieben, optimal genutzt. Zwei Wände mit Tafeln, eine Fensterwand und eine, an der selbstgebastelte schwarze Papierkrähen hängen. Fast wie bei uns. Es fehlt nur jeder Raum zum Bewegen. Die beiden Gänge zwischen den Tischen sind ein gutes Stück schmaler als der Mittelgang einer alten Boeing 757.
Priti stellt mich vor. Die Kinder wiederholen meinen Vornamen im Chor. Sie haben Spaß daran, gemeinsam „Ma-ri-us!“ zu schreien. Es ist unsere erste Englischstunde nach den Neujahrsferien. Wir wiederholen gelernte Wörter. Ich halte eine Karte hoch. „Ship!“, ertönt es wie aus einem Munde. „Boat!“, „Kite!“, „Ladybird!“ , Bee!“. Buchstabiert wird im Chor. „B-A-L-L-O-O-N!“ Wir sind dabei, sie zu verlieren, das Gemurmel wird lauter. Ich schäle mich durch den Gang zu den Jungs in der letzten Reihe. Jungs in der letzten Reihe scheinen sich weltweit so zu benehmen, wie Jungs in der letzten Reihe sich so benehmen. Sofort wird das Papier, das heimlich weitergereicht wurde, versteckt. Ich kann die Zeichen darauf sowieso nicht lesen. Aber das wissen die Jungs nicht. Sie strahlen mich an, wie es nur ertappte Jungs aus der letzten Reihe können. Ich verkneife mir ein Grinsen und zeige nach vorne, wo Priti auf und ab rennt. „Run“ erschallt es aus, naja, sagen wir mal 35 Kehlen. Die übrigen 16 beschäftigen sich anderweitig. Was heißt „Flöhe hüten“ eigentlich auf Englisch? Ich hüpfe wie ein Frosch, Priti hüpft. „Jump!“ Jetzt haben wir sie alle wieder. Ich lasse mir an der Tafel die Buchstaben diktieren, Priti korrigiert die Aussprache. Die beiden adipösen Jungs aus der letzten Reihe, es sind nicht die Briefchenschreiber, winken mir lachend zu und klatschen Beifall. Noch eine Runde Hangman, es klingelt und wir haben die Stunde geschafft. Kleine Pause. Die Kinder bleiben sitzen. Sie massieren sich nach Anweisung aus den Lautsprechen an bestimmten Akupressurpunkten das Gesicht. Schließen die Augen. Konzentrieren sich. Nur zwei Mädchen nicht. Sie gehen zwischen den Reihen auf und ab und ermahnen ihre Mitschüler, wenn sie die Übungen nicht ordentlich machen. In militärischem Tonfall und bei Bedarf mit Körperberührung. Drohend wird das Lineal gehoben und saust knallt auf den Tisch, wenn einer der Zöglinge nicht spurt. Ich denke über das chinesische Schulsystem nach. Darüber, wie ruhig und zugleich fröhlich und lebendig die 51 Kinder während der Stunde waren.

Die acht freiwilligen, unbezahlten Englischlehrer aus Deutschland, Indien, Schweden, den USA und Kanada sammeln sich auf dem Schulhof. Die meisten haben einen Chauffeur, der sie nach dem Freiwilligendienst zurück in ihren umzäunten Compound bringt.

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert