Tigervaters Tagebuch – Unsortiertes Alltägliches aus Shanghai

Was für eine Woche! Wir hatten lieben Besuch, Kathrin, Thilo und Michael aus Volksdorf, die uns unter anderem mit einem Berg Schokolade und 1,2 kg Nutella versorgt haben, dazu mit guter Laune und Begeisterung und Interesse für die Stadt der Zukunft (“Gegen Shanghai ist Hamburg ein Dorf”) erfreuten. Selbst bei der Küchenfertigmachung eines Ochsenfrosches – heißen die eigentlich Ochsenfrosch, weil sie genauso blöd oder genauso schmackhaft wie Ochsen sind? Und warum heißen sie auf englisch Bullfrog? Sorry, kleine Abschweifung. Wo waren wir? Richtig: Auf dem chinesischen Markt, wo die Verkäuferin der Kundin mit geübten Griff einen lebenden Frosch aus dem Froschkorb zog, den Kopf mit der Kombizange abkniff und routiniert enthäutete. Da haben sie gestaunt, unsere Hamburger Vorstädter! Das war die positive Meldung der Woche. Nun zum Schock der Woche. Entspannt einkaufend an der Carrefour-Kasse stehend erreichte mich am Mittwoch der Anruf aus der Schule. “Ihr Sohn hat sich den Arm gebrochen!” Meine erste Gegenfrage: “Welcher?” “Oskar.” Ich zur Schule, Oskar eingesackt, ins United Family Hospital gefahren, Röntgen. Radius gebrochen, verschoben.

Die Kinderorthopädin erkennt Oskar von seinem letzten Besuch wieder, schüttelt bedauernd den Kopf und schlägt die Hände leicht zusammen (sie spricht außer dem Wort “pain” kein Englisch). Die Nurse übersetzt, dass Dr. Chen den Bruch ohne Operation richtet, dass es weh tun wird und dass sie gerne auf eine Betäubung verzichten will. Oskar nickt tapfer und schreit markerschütternd, als sein Handgelenk gerichtet wird. Dann freut er sich, als der Schmerz nachlässt, lässt sich gipsen und weint erst bitterlich, als er zu Hause rekapituliert, auf was er verzichten muss in den kommenden vier Wochen. Fußball spielen, wo doch die Saison gerade erst begonnen hat, Gitarre spielen, wo es doch gerade richtig losrockt, Lego spielen, wo doch Klein-Shanghai noch lange nicht fertig ist. Immerhin: Letzteres funktioniert nun doch. Und auf Klassenfahrt ab Montag fährt er auch mit. Wir erklären den 22. zum offiziellen Oskar-Unglückstag, denn die Fußfraktur ereignete sich vor exakt acht Monaten, und beschließen, fröhlich zu bleiben und uns auf Halloween vorzubereiten

Long time no see sagt der Hongkong-Chinese gerne zur Begrüßung. Das gilt auch für uns, lieber geneigter Leser und zugewandte Leserin. Soll ich jetzt erklären, dass der Sommer so schön war und ich beschlossen habe, eine lange Blog-Pause einzulegen? Vielleicht. Auf alle Fälle beginnt jetzt der Shanghaier Herbst. Kurzärmelig kann man leider nur noch zwischen 9 und 22 Uhr herumlaufen, im Garten reifen die Mandarinen zum leisen Geplätscher des Wassers aus dem Swimming Pool, der nach reichlich Badefreuden seinen Platz verlassen muss und unsere Wiese langsam zur Moorlandschaft machen darf. Dann steht die große Pool-Säuberung und der Abbau an. Was ist noch zu tun? Hamsterkäufe. Ich habe heute einen neuen Großmarkt ausprobiert, wo es Lebensmittel aus der westlich geprägten Hemisphäre in großen Mengen zu kleinen Preisen gibt. Neun Kilo Gouda aus Holland, fünf Kilo Butter aus Australien, je vier Kilo Frischkäse aus Neuseeland und Emmentaler aus dem Elsaß, dazu 24 Liter deutsche Milch, acht Gläser Schweizer Himbeermarmelade und noch zwölf kleine Pakete dänischer Camembert. Das macht uns in den nächsten Wochen satt und glücklich. Und ein voller Kühlschrank treibt die Schreiblaune nach oben. Freut euch auf weitere Einträge in Tigervaters Tagebuch!

Der Tigervater erwacht langsam aus der sommerlichen Ruhephase. Der Urlaub ist vorbei und der Ernst des Lebens zeichnet sich am Horizont ab. Gottseidank ist dieser nur eine gedachte Linie, die sich beim Näherkommen ständig entfernt.

Der Containerhafen von Shanghai, Yangshan, ist einer der größten der Welt – und optisch einer der langweiligsten. Wo im heimatlichen Hamburg die Riesenpötte aneinander vorbei rangieren müssen, Schlepper tuten und Maßarbeit gefragt ist, haben “die Chinesen” – ich mag eigentlich keine einordnend wertenden Nationalitätsbezeichnungen, aber jetzt schreibe ich es einfach mal so – ein Fischerdorf auf einer vorgelagerten Insel plattgemacht, eine 26,7 Kilometer lange Brücke dorthin gebaut und Platz für zehn 360-Meter-Frachtschiffe mit bis zu 16 Metern Tiefgang geschaffen. Die Container liegen bereit wie die Legosteine im Kinderzimmer eines Ordnungsfetischisten und sind ruckzuck ein- und ausgeladen. Imposant, aber unspannend. Genauso unspannend wie der imposante Dishui Lake, ein kreisrunder künstlicher See nahe des Flughafens Pudong. Ausladend, gewaltig und nahezu menschenleer die Uferpromenade. Fast unbewohnte Compounds. Auch das ist Shanghai.

Darf ich zugeben, dass ich von meiner heutigen To-do-Liste so gut wie nichts abgearbeitet habe? Eigentlich nicht. Also kaprizieren wir uns darauf, was erledigt wurde. Ist für die psychische Gesundheit sowieso besser, als einen Berg Aufgaben vor sich aufzuürmen. Ich war mit Oskar schwimmen, als AG-Leiter darf ich das Schwimmbad der Schule, ein 25-Meter-Becken mit sechs Bahnen und ein kleineres Lehrschwimmbecken, gratis nutzen. Also haben mein Jüngster und ich uns noch abends um sieben auf die Räder geschwungen und ins leicht gewärmte Nass gestürzt. Einer der ansonsten wenig beschäftigten Rettungsschwimmer machte mich sogleich darauf aufmerksam, dass meine Badehose “not good” sei. Wusste ich auch so. Im Schwimmbad der deutsch-französischen Schule Shanghai, dem Eurocampus, herrschen Regeln wie im Seedammbad der frühen Siebziger. Badekappenpflicht und keine schlabberigen Schwimmshorts. Enganliegend müssen die Badebuxen sein. Ich denke an den legendären Bademeister Peter Stasula und frage mich, wo seine Shanghaier Kollegen eigentlich ihre Trillerpfeifen haben. Oder ob sie bei Bedarf die entsprechende App aufrufen, wo sie doch sowieso die meiste Zeit aufs Smartphone starren.    

Der Ernst des AG-Leiter-Lebens beginnt: Gemeinsam mit meiner künftigen Vorgängerin betrete ich den eher kleinen Klassenraum. Drei der vier Redakteurinnen sind erschienen, sie kommen mir scheu und jung vor, tauen aber auf, während sie von ihren Projekten für die Schülerzeitung erzählen. Vieles klingt klug, manches bedarf der Korrektur, aber im Großen und Ganzen wirkt es kreativ. Erwähnte ich schon, dass ich eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben habe, die es mir untersagt, Details aus dem Schulleben zu berichten? Wer mag, kann ab Mitte Juni, ich werde separat darauf hinweisen, das Produkt auf der Website der Schule lesen. Dafür darf ich vom abendlichen Elternstammtisch von Pauls Jahrgangsstufe erzählen. Ist aber wenig ausführlich. Wir sind uns einig, dass wir tolle Kinder haben, die sich gut verstehen und immer nett sind.

Früh sollen wir da sein, da gibt es noch keine Warteschlangen. Die Tageslosung für unseren Besuch im Jinjiang-Vergnügungspark zündete. 0902 waren wir dort, um 0908 saßen Oskar und ich in der Geisterbahn, der schwächste Ride für heute. Also nichts wie ins Riesenrad, das es mit seinen 108 Metern unter die Top 15 der Welt schafft. Zum Vergleich: Europas berühmteste Riesenräder, das London Eye und das Riesenrad im Prater kommen auf 135 respektive 65 Meter. Beide kosten deutlich mehr als die 40 Yuan, also fünf Euronen, die wir für die zwanzigminütige Fahrt berappen. Und der smogfreie Blick über die Stadt ist heute eh unbezahlbar. Gute drei Stunden verbrachten Marlene, Oskar und ich – Paul war, wie jeden Sonntagvormittag, Fußball spielen – im Park, fuhren zweimal Wilde Maus, Kettenkarussell (nur Marlene), ein obskures Karussell, das man im Liegen fuhr, Wildwasserfahrt (wo nur ich nass wurde) und unternahmen eine Bummelfahrt durch eine Weltwunderlandhalle. Derart inspiriert stand nachmittags Rollerfahren im Compound auf dem Programm. Marlene einzeln, Oskar mit mir als Sozius.

Marlene, ich und alle restlichen 22 Millionen 999 Tausend und 998 Shanghaier waren heute auf Shoppingtour in der einzigen Fußgängerzone unserer Heimatstadt, der Nanjing Road. Meine heldenhafte Tochter reiht sich in die schier endlosen Schlangen vor den Kabinen von Gap, Forever 21, Zara, Uniqlo und Metersbonwe ein. Wobei letzterer Laden eine strikte Off-Limits-Policy für Männer im Frauenanprobierbereich fährt. Also gesellte ich mich zu den pickligen chinesischen Jungmännern, die etwas abseits warteten, ehe sie ihre meist nicht ganz so pickligen Freundinnen kurz vor dem Kabinengang im neuen Gewand bewundern durften. Marlene und ich verständigten uns per Handy, weil sie sich nicht sicher war, ob sie trotz strengster Überwachung, Türsteherinnen und einem einzigen Zugang ihren Rucksack mit Geldbeutel in der Kabine alleine lassen wollte. Ich beruhigte sie und sie schlüpfte kurz nach vorne, ihre schicke türkisfarbene Hose vorzuführen, die wir schließlich erstanden. Weitere Ausbeute das Einkaufsbummels: Vier T-Shirts, gepunktete Schuhe und eine kurze Hose für Oskar. Und die Erfahrung, dass man auch in Shanghai Fußgängerzonen an sonnigen Frühjahrsnachmittagen meiden solte, wenn man in Ruhe shoppen gehen will.

Was die Teenager hierzulande alles erleben. Marlene war drei Tage auf Suchtpräventionsfahrt mit Begegnung mit einem Ex-Junkie, Filmen und Selbstbehauptungsaktionen. Über die Präventionsaktionen zu meiner Teenagerzeit – und deren fragwürdige Erfolgsbilanz – schweige ich mich jetzt aus. Marlene kam tief beeindruckt zurück. Am Abend waren meine Mädels dann mit Marlenes Freundin Michelle beim Bruno-Mars-Konzert und waren begeistert.

Auf Einkaufsbummel. Wo kriegt man in Shanghai Fotopapier, Dunkelkammerleuchte und schwarze Sprühfarbe? Leider nicht im benachbarten Baumarkt, nicht einmal die Sprühfarbe. Also zischte ich los, die altbewährte Kombi Bus-U-Bahn-U-Bahn-Taxi wählend, die unterschiedlichen Läden zu suchen, zu finden und einzukaufen. Wie fast überall in Asien ballen sich Läden mit gleichartigem Angebot auf vier Etagen unter einem Dach. So auch die Fotofachgeschäfte. Wobei Fotopapier nur ein einziger Laden führte, während man bei hochwertigen Kameras, Objektiven etc eine Auswahl hatte, die ich noch nirgendwo in Deutschland gesehen habe. Wesentlich amü- und intereas-santer geriet der Farbenkauf. Denn die Spraydosen gibt es in einem überdimensionierten Möbelladen, wo ich zwischen den geschmacklosesten Einrichtungsfachgeschäften flanierte, die ich je gesehen habe. Gelsenkirchener Barock und Chippendale sind Bauhaus gegen die Schnitzorgien der Designverbrecher, die sich hier straflos ausgetobt haben. Um jetzt nicht in den Ruf des Rassisten zu geraten: Es gab auch ganz normale, sogar ein paar moderne Möbel, aber den Augenkrebs verursachte halt das erwähnte Schnitzwerk, bei dem mir die Kamera in der Tasche steckenblieb, weshalb du, lieber Leser, dir es in deiner Fantasie ausmalen darfst und vor mir gesagt bekommst, dass es noch viel schlimmer war.  

An meiner chinesischen Schule wurde es heute ernst für mich: Aus Personalmangel war ich Head Teacher und hatte die Bande, es sind so runde 50 Kinder pro Klasse, zu beschäftigen. Achtung, gleich müffelt es. Ich habe die Aufgabe mit Bravour bewältigt! Quatsch. Natürlich lag ein ständiger Klangteppich von Drittklässlergemurmele unter meinen Anweisungen, Hampeleien und Tafelmalereien. Naja, den Kindern hat es Spaß gemacht und am Schluss haben sie sich tatsächlich brav gemeldet, statt wie anfangs wild durcheinanderzuschreien. Eine chinesische Lehrerin habe ich heute gesehen, die eine Mikrofon-Verstärker-Lautsprecher-Kombination trug, wie ich sie zuvor nur bei Promotion-Aktionen im Supermarkt gesehen hatte. 

Auch wenn ihn seine beschädigter Fuß immer noch deutlich an der vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit hindert, bleibt Oskar zu Höchstleistungen fähig. Heute zum Beispiel hat er mit seinem Freund Trevor einen Holzturm errichtet, der die beiden Drittklässler deutlich überragt. Trevor ist übrigens gebürtiger Bad Homburger, der vor seinem Umzug nach Shanghai im schönen Kirdorf gelebt hat..

Heute morgen schlurfe ich wie jeden Donnerstag gegen halb sieben die Treppen ins Erdgeschoss runter, denke an nichts Böses und ziehe die Vorhänge auf. Doch was ist das? Da liegt ja ein Kronleuchter auf dem Boden! Der gestern abend noch in schlappen fünf Metern Höhe an der Decke hing. Ich schaue nach oben, wo ein dünnes Kabelchen die Stellung behauptet. Ein kurzer Check: Kronleuchter ist so gut wie hin, der Steinboden und unser Kuhfell haben es heil überstanden. Ursache war ein gebrochenes Kettenglied in der Aufhängung. Materialermüdung, niemand hat etwas falsch gemacht. Es hat auch niemand etwas vom Sturz gehört. Nach kurzer Rücksprache mit dem Vermieter kommt der Leuchter in Harry Potters Zimmer (für literatuunkundige: Der Holzverschlag unter der Treppe) und wir fühlen uns deutlich sicherer, als wenn der Hausmeister das Teil wieder an der Decke angebracht hätte.

Langsam wird das Unterrichten an der chinesischen Schule Routine. Dachte ich mir zumindest. Bis wir beim Durchzählen vor dem Start feststellten, dass wir heute eher wenige Freiwillige waren und ich, gemeinsam mit der total fitten Amerikanerin Alexis, zwei neue Klassen bekam. Also aufs neue die Vorstellung und die Freude der Kinder erleben, wenn sie im Chor Ma-Ri-Us schreien und das Erfolgserlebnis, als der schüchternste der Jungs mit klitzekleiner Schrift das richtige Wort an die Tafel (“rectangle”) an die Tafel geschrieben hat. Es wird wärmer, die Kinder sind dünner angezogen und deutlich entspannter. Wohl weil sie sich in ihren dicken Daunenjacken zu nahe auf der Pelle hockten. Jetzt ist es luftiger.

Ausflugstag. Endlich wieder. Mit dem gelben Bus Richtung Nepal, also auf der Hu Qing Ping Road nach links. Etwas mehr als eine Stunde am Outlet Center vorbei in ferne Welten, die noch nie zuvor ein Marius Leweke gesehen hat. Und den das Gefühl ereilte, das auch nicht unbedingt gesehen zu haben brauchte. Eintönige Vorstädte, ein geschäftiges Geschäftszentrum (Qing Pu CIty) und viele Rapsblüten, die den bewölkten Morgen mit freundlichem Gelb anreichern. Am Ziel bummelte ich durch die alte Wasserstadt Zhujiajiao, ein lohnender Besuch. Gegessen habe ich Schnecken, wen auch immer es interessiert.

19.30 Uhr Es ist eingedeckt, die Gäste können kommen! Der Sekt steht kalt, das Tsingtao draft ebenso, die Weingläser sind zu wenig, aber dafür reicht das Essen, Kürbissuppe, Curryhuhn und Schokoladenkuchen, hoffentlich für alle!

21.15 Uhr Endlich sind alle Gäste da und das Festessen kann beginnen. Die Lehrer sind in der Überzahl, aber auch die mitgereisten Ehemänner und Ehefrau sowie der einzige nicht beruflich der Schule verhaftete Gast, halten die Gespräche weitgehend frei von Schulthemen. Uff. 1.30 Uhr Ist es denn wirklich schon zu Ende? Die Zeit verging, stille Grüße vom Klischee, wie im Fluge.

Einkaufen für das Festessen. Im lokalen französischen Supermarkt, dem geliebt-gehassten Carrefour muss der Speiseplan modifiziert werden. Manches, was in Deutschland allerorten feilgeboten wird, ist hier exorbitant teuer, Naturjoghurt etwa, Chinas Zungen mögen es nur gesüßt, aromafrei kostet Aufpreis. Manches ist gar gänzlich unbekannt. Rote Linsen zum Beispiel. Sei’s drum. In Shanghai sein, heißt flexibel sein, improvisieren können und entspannt bleiben. Denn zu den ersten chinesischen Sätzen, die man hier sofort zu verstehen lernt, gehört “Meiyou” – zu gut deutsch “Hamwanich”.

Alltag in An Sheng achtundachtzig: Aufstehen, Frühstück machen, Oskar ein Apfel für die Schule, Paul ein Brot mit Himbeermarmelade, Marlene nichts (“Ich habe keinen Platz in meiner Tasche”). Fische füttern. Sie scheinen nach dem Winter ausgehungert und ziehen an der Oberfläche ihre Kreise, sobald sich ein Mensch nähert.

Oskars Gips ist ab. Unter Tränen. Nicht weil es geschmerzt hätte. Sondern weil der junge Tiger nun noch einige Zeit eine Manschette tragen muss und nicht sofort zum Fußballspielen auf dem Platz rumhüpfen darf. Jetzt humpelt er, geht aber ohne Krücken, morgen wird er wieder aufs Fahrrad steigen und schwimmen darf er auch. Der Tigervater seufzt erleichtert auf. Auch darüber, dass der Gips nicht aufbewahrt werden muss. Denn der dünstet gerade zwei Wochen Tigerfußschweiß aus.


Agentin 008 atmet durch. Silbern glänzt ihr Instrument im letzten Licht des ausgehenden Tages. Sie zerlegt sie sorgfältig in drei Teile. Zieht das Baumwolltuch mehrfach durch die großkalibrige Metallröhre. Teil für Teil wandert in den schwarzen Transportkoffer. Die Verschlüsse klicken beim Schließen. Sie setzt sich auf ihr schneeweißes Decathlon-Bike und rauscht mit wehender Mähne ab. Eine letzte Stärkung auf dem Weg zum Einsatzort, im Fahren verzehrt. Die Zeit drängt. Agentin 008 mischt sich unter die Menschen, erst eine kleine Zahl, dann eine vielköpfige Menge. Sprachengewirr. Deutsch, franzöisch, englisch, chinesisch, schwäbisch. Wer versteht den anderen, wer nicht? Oberagent M sammelt seine Leute. Letzte Instruktionen. Agentin 008 bändigt ihre Mähne mit einem Zopfgummi. Freie Sicht und ungehinderter Griff sind angesagt. Wehe, es verheddern sich die Haare beim Einsatz.
140 Agenten von DSS und LFS machen sich für ihren Einsatz bereit. Stühle rücken lautlos über den Holzboden. Kommandant C aus Frankreich leitet den ersten Teil. Ganz in schwarz gekleidet tritt er vor seine Mitstreiter. Gespannte Stille. Er hebt die Arme. Agentin 008 konzentriert sich auf das blitzende Instrument in ihren Händen. Sie hebt es langsam nach oben. C senkt die Arme. Agentin 008 holt Luft. Tief und dennoch lautlos. Ihre Gesichtszüge zeigen den Ernst der Sache. Blickkontakt mit C. Auf geht’s, 008, scheint er zu sagen. Und 008 schießt los. Mit zwölf anderen auf den Sclag gemeinsam. Makellos kommen die Töne aus 13 Querflöten. Was gespielt wird? Die Titelmelodie von James Bond. Die Zuhörer sind gerührt. Geschüttelt wäre auch schlecht.

Marlene ist jetzt 14! Anlass zum Kuchenbacken – nachdem unser Besuch uns mit Mandeln und Schokolade versorgt hat endlich wieder der gemeinsame Lieblingsnussschokoladenkuchen. Die Philadelphia-Himbeertorte haben wir mit Mascarpone gemacht, schmeckt auch. Nur dass wir Eltern und Geschwister kaum etwas abbekamen, da Marlenes Gäste, vier Klassenkameradinnen zur Übernachtungsparty, sehr sehr hungrig waren und nach dem Kuchen sogar noch Pfannkuchen in hoher Stückzahl vertilgt haben. Jetzt lungern sie im Wohnzimmer auf dem Boden, haben eine Twilight-DVD eingelegt, jede hat ihr Smartphone inder Hand und kommuniziert und rezipiert in Dimensionen, die mein Mittfünfziger-Hirn irgendwie sprengen würden. Eltern und Brüder legen sich langsam zur Ruhe, während die Teenager weiter virtuell tratschen, gackern und sich Blondinenwitze nicht mehr erzählen, sondern gegenseitig auf dem Display zeigen. 

Ich habe dem Töchterchen zum Geburtstag ein Gedicht geschrieben und mein Stolz und meine Eitelkeit gebietet mir, es auch hier zu publizieren:

Marlene zum 14.

Du stehst in Shanghai am hohen Turm

Der Wind wühlt im flatternden Haar.

In deinem Antlitz verzieht sich der Sturm

zum Lächeln. Jetzt strahlst du sogar.

O Teenager-Tochter, o toller Fant

Man möchte dich kräftig umschlingen

Du kannst vom einen zum anderen Rand

Uns Lachen, Verzweiflung und Fröhlichkeit bringen.

Tief drinnen in mir hör’ ich dich noch frisch

Gerade geboren laut schreien.

Als Kleinkind im Kühlschrank und unter dem Tisch

Suchtest du nach Leckereien.

Ein Süßmaul bist du geblieben mein Schatz,

Lutschst gern mal an einem Eis.

Und schon wieder bin ich mit diesem Satz

Eins schuldig dir, die Wette ist heiß.

Musik, selbst gespielt, macht dich stolz,

Da überhörst du der Brüder Gegreine.

Schickst nach draußen sie zum Gebolz

Hast Mama und Papa für dich nun alleine.

14 Jahre bei uns, welch ein Segen.

Die Zeit mit dir ist, war und wird toll.

Bei Sonne und für den Reim auch im Regen

Marlene, bleib weiter so wundervoll.

Jetzt sitzt hier am Tisch du und lachst.

Leis’ piept deine Milch in der Mikrowell’.

Wird Zeit, dass du Geschenke aufmachst,

Beeil dich bitte, dann geht es ganz schnell.

In “Die Hochzeitsnacht” von Joseph von Eichendorff  nimmt die Braut ein trauriges Ende: Wie es sich für eine ordentliche romantische Ballade gehört, stirbt sie am Ende, gemeuchelt von des Ritters Hand, am romantischsten Platz Deutschlands, in einem Kahn auf dem Rhein. Die große Ehre, den Bühnentod zu sterben, wurde meiner Tochter Marlene am Vorabend ihres 14. Geburtstages zuteil. Im vollbesetzten Theatersaal ihrer Schule überzeugte sie. Anlass war das Balladenprojekt aller drei siebten Klassen, die in Vierer- und Fünfergruppen klassische deutsche Balladen auf die Bühne brachten von den “Heinzelmännchen” über den “Zauberlehrling” und den “Handschuh” bis zu Fontanes “Brücke am Tay” reichte das Spektrum, es gab Schatten- und Puppenspiel, Rap und Gesang und die szenische Darstellung, deren Zentrum Marlene als sterbende Braut bildete. Sehr schön, das alles, sehr gelungen, sehr abwechslungsreich und höchst kurzweilig.

Skiferien einmal anders: Pauls frühere Klassenkameradinnen Jana und Malou und unsere Volksdorfer Freunde Heike und Andreas haben sich diesmal nicht die Bretter untergeschnallt, um weiße Hänge herabzusausen, sondern sich ins Flugzeug geschwungen, uns ihre Aufwartung zu machen. Herzlich willkommen! Wir hausten ein paar Tage zu neunt bei uns – ein Riesenspaß. Jetzt sind die jungen Damen nach Beijing gereist, morgen folgen die beiden anderen. Das gemeinsame Highlight im wörtlichen Sinn: Der Sonnenutergang über der Stadt bei Cocktails in der Bar Cloud 9 genossen, im 87. Stock des Jin Mao Buildings, fast 400 Meter über der Erde.

Seinen 9. Geburtstag wird Oskar nicht so schnell vergessen. Denn im Zuge fortgeschrittener Euphorie sprang der junge Mann nebst einem Großteil seiner Gäste rudelweise von unserem Terrassenmäuerchen herunter, aus exakt 107 cm Höhe, runde 160 cm weit aufs Gras. Oskar landete schieffüßig und klagte bis zum nächsten Morgen über Fußschmerz und hickelte einbeinig durch die Gegend. Für uns ein guter Grund, mit ihm zum Arzt zu fahren, was hier so viel heißt, wie in die Notaufnahme des Ausländerkrankenhauses, wo beiede Füße geröntgt und ein kleiner Bruch des linken Ring-Zehs festgestellt wurde. Die Ärztin, Dr. Xu, stellte den Fuß mit Hilfe eines Gipsverbandes bis zum Knöchel ruhig und händigte uns zwei Krücken, nach amerikanischer At unter den Armen zu tragen, aus. Drei Wochen ist jetzt Gipsfuß angesagt. Oskar klagt nicht: Weder über Schmerzen noch über seine Immobilität. Glückwunsch.

21.2.2014 Happy Birthday, Oskar! Kaum zu glauben, mag man jetzt schwafeln, das dieser Knirps schon volle neun Jahre auf dem Buckel hat. Unser dauerkommunizierendes Sonnenscheinchen, gegen das Ted Cruz ein großer Schweiger ist! Unser Klassenprimus, der in seinem ersten Shanghaier Zeugnis nicht nur in Deutsch, Englisch, Mathe und Sachunterricht ein „sehr gut“ stehen hatte, sondern auch in Sport, Kunst und Musik. Der sich ein Geburtstagsessen mit der Familie im Paulaner Bräuhaus gewünscht und bekommen hat, mit Schnitzel, Haxe, Hendl und Kasspätzle.

Und der heute, am 22.2.2014,  mit seinen Freunden und Freundinnen Maja, Trevor, Felix, Lukas, himself, Alexander, Moritz, Justin, Zoé, Felix und Rafael, nebst Schwester Marlene (ganz links) gefeiert hat. Bei strahlendem Sonnenschein, angenehmer Temperatur und akzeptablen Smogwerten ging es auf der großen Rallye durch den Compound, hernach stand ein zünftiges Fußballmatch auf dem Programm, ehe elf hungrige Mäuler vier Bleche Pizza niederkämpften.

Groarough! Meowwww! Maaaaaoooooo! Der Tigervater ist aus dem Winterschlaf erwacht. Und blickt staunend auf die vergangenen Wochen zurück, die er total somnambul in zwei Ländern, diversen Städten und auf dem einen oder anderen merkwürdigen Fahrzeug verbracht hat. Das eine ist unser Postauto- halt, Moment, wir schreiben 2014, DHL-gelber Elektroroller, dessen Markenname in chinesischen Schriftzeichen die ganze Plastikverkleidung verziert. In lateinischer Schrift steht „E-Bike“ und „Electric Bicycle“ drauf. Was übrigens durchaus wörtlich zu nehmen ist. Wohl aus Gründen der Mobilität trotz Strommangel verfügt unser DHL-Mini tatsächlich über Pedale, mit denen man das Teil knapp über Fußgängertempo bewegen kann und was ich schon einmal ausprobieren musste … Halt! Erst einmal die Vorteile. Oder die Historie? Also unser Roller ist ein vier Jahre altes Garagenfahrzeug, das seine deutsche Vorbesitzerin aus Angst vor dem Shanghaier Verkehr nie bewegt hatte. Naja, ihr Mann fuhr bisweilen die 780 Meter zum Bäcker, aber nur am Wochenende. Mangels Beschäftigung lag irgendwann der Akku flach und sie gönnten sich letzten Sommer einen neuen. Kurz: Das Teil ist prima in Schuss, nicht zerbeult und es schepperte und klapperte wohl schon im Verkaufskatalog. Dafür war es nicht teuer und ein Regenumhang, natürlich nie benutzt, wurde auch mitgeliefert. Jetzt fährt die Familie in Gestalt ihrer drei ältesten Mitglieder ab und an mit dem Ding zum Einkaufen, zur U-Bahn und zu entfernteren Galaxien, ähh Compounds. Der Akku reicht so etwa 20 Kilometer oder weniger, je nach Tempo, Nutzlast, Scheinwerfereinsatz und wie oft man hupt. Seit wir den Roller haben, gewinne ich im Bauchraum an Gewicht.

1.1.2014 Wir haben das neue Jahr am Bund begrüßt. Mit tausenden anderen, die mit uns die Lasershow, die illuminierte Skyline und das kurze, aber heftige Feuerwerk genossen haben. Das Ganze lief äußerst freundlich ab: Keine grölende, pöbelnde Masse, keine Böller aus der Menge, keine Flaschenschmeißer, keine Randalierer wie wir es einst in der Heimat von den einschlägigen Frankfurter Brücken gewohnt waren. Stattdessen einfach friedlich fröhlich feiern. Willkommen 2014!

29.12.2013 Die Tigerfamilie ist zurück in Shanghai. Gegen den ausdrücklichen Wunsch der Tigerkinder, die gerne noch im “place in the world, they call it paradise”, wie es in der Hotelhymne heißt, die die Coco Band jeden Abend gesungen hat, geblieben wären. Hier in Shanghai ist es 25 Grad kälter als auf Mindoro, aber sonnig und halbwegs unsmoggy.

21.12.2013  Der Tigervater wird zum Tigerhaivater und überwacht, gemeinsam mit der Tigerhaitochter schnorchelnd von oben, wie Tigerhaikind Oskar mit seinem Tauchlehrer die Unterwasserwelt erkundet. Gesehen haben wir eine Hawksbill-Schildkröte, ungefähr von Oskars Größe, die das Seegras acht Meter unter uns genüsslich abweidete.

18.12.2013  Der Tigervater ist mit der Tigermama und den kleinen Tigerkindern im Urlaub auf den Philippinen, genauer gesagt im Coco Beach Resort in Puerto Galera. Es ist hier genau wie auf dem Foto: Wir haben ein romantisches Bambushaus inmitten eines tropischen Gartens mit tollem, immer freundlichen Personal, Korallengärten zum Schnorcheln vorm Strand und netten Gästen. Wenn ich Lust habe, schreibe ich mehr darüber, aber eigentlich ist Urlaub Urlaub, oder?
Natürlich denken wir heute an meine Mutter, die jetzt in Ober-Erlenbach ihren 82. Geburtstag feiert: Herzlichen Glückwunsch, Mama, und wir freuen uns, dass du uns nächstes Jahr besuchen kommst!

6.12.2013  Heute mal das Unerfreuliche aus unserer neuen Heimat: Der Smogwert (“Air Quality Index” kurz AQI) ist auf über 400 geschossen. Grenzwert ist 75. Die Schule hat den Eltern freigestellt, ob sie ihre Kinder schicken, Sport im Freien ist verboten. Der Spaß-Lauf “Jingle Bells Run” findet, wenn überhaupt in der Halle statt. Die Sichtweite ist begrenzt, die Sonne steht wie ein blassgelber Teller hoch am Himmel. Wenn ich nicht wüßte, dass in Hamburg Orkan herrscht, hätte ich Heimweh.

26.11.2013  Das Umzugsgut hängt immer noch beim Zoll. Da muss man sich einfach das eine oder andere Möbelstück zulegen, damit die Villa nicht so leer ausschaut. Von der sportlichen Seite ganz zu schweigen.

Das gute Stück stammt aus den Beständen eines australischen Expat-Footfabllclubs. Keiner der Jungs hatte mehr genügend Platz für den Tisch.

Langsam wird es abends hier ungemütlich kühl. Und das leider nicht nur draußen. Fußbodenheizung haben wir nur im Erdgeschoss, die beiden Obergeschosse heizen wir per Klimaanlage und Radiatoren, von denen ich vier Stück bei Carrefour erstanden und als Dreingabe einen Matratzenwärmer geschenkt bekommen habe. Erschwerend kommt hinzu, dass die Fenster  zwar doppelt verglast sind, die Metallrahmen aber jede Kälte durchlassen. Von den Ritzen, es sind Schiebefenster, durch die der Wind pfeift, ganz zu schweigen. Dennoch mag ich nicht klagen.

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