Vor dem Mondfest

Morgen ist Mondfest. Ich sitze am Huang-Pu. Auf der Pudong-Seite mit Blick auf den Bund. Die Uhr des alten Zollhauses zeigt fünf nach Zwei. Ein leerer Frachtkahn überholt mit dröhnendem Motor ein Ausflugsboot. Nur eine Handvoll Touristen lehnen entspannt an der Reling. Es fotografieren nicht einmal alle. Hinter mir glänzen die Kugeln, die Perlen, des Oriental Pearl Tower in stahlrot. Oder ist die Farbe magenta-metallic? Egal. Mir gegenüber auf der anderen Fluss-Seite gleißt die Kuppel des alten Hauptquartiers der Hong Kong Shanghai Banking Corporation in stolzem Gold. Gerade als wollte sie ihren ganz weit nach oben strebenden Wolkenkratzer-Cousinen etwas sagen. „Ätsch! Ihr seid vielleicht höher, größer und breiter. Aber ich war schon hier, da war dort drüben noch Matsch mit ein paar Bauernhöfen!”

Ein voller Frachtkahn passiert meine Promenadenbank. Zwölf Container an Deck, aber schneller als die Touristenboote. Wer arbeitet, beeilt sich in Shanghai. Müßiggang ist Laster. Selbst der Fluss ist alles andere als träge. Nervös kräuseln sich die Wellen, die Sonne glitzert an der Wasseroberfläche, deren Farbe zwischen oliv und khaki changiert. Die Glocke des Zollhauses schlägt einmal. Viertel nach. Ein Schiffshorn antwortet prompt.

Hinter mir schiebt ein fliegender Händler seinen scheppernden Wagen. Sonor brummen die Schiffsmotoren. Der Autoverkehr sorgt für ein Grundrauschen. Die Mädchen auf der Bank neben mir schützen ihre zarte Haut mit Schirmen vor der Sonne. Der eine Schirm nimmt das magenta-metallic der Tower-Perlen auf und ist mit Pseudo-Spitzen brokatartig ziseliert verziert.

Morgen ist Mondfest und die historischen Bauten am Bund mir gegenüber tragen heute schon Flagge. Rote Fahnen flattern im Wind über Banken, Luxusläden und dem noblen Peace-Hotel. Sie leuchten deutlich hervor aus dem graubraunen Sandstein-Ensemble. Wie kleine Ausrufezeichen. Die tiefrote Antwort auf meiner, der neuen, auf- und hochstrebende Seite Shanghais: Ein McDonalds-Zeichen, weithin sichtbar. Und ein falsches Versprechen. Die kleine Bude bietet nur Kaffee und McFlurrys an. Es geht um die Show, ums Logo-Zeigen, um das Revier, das mit dem Doppelbogen markiert ist.

Die Uhr des Zollturms schlägt zwei Mal. Halb drei in Shanghai. Morgen ist Mondfest.

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