Im Glace-Haus – Eisfestival in Harbin

Deutschland schwitzt bei 15 Grad plus – und wir Freizeit-Chinesen gönnen uns 25 Minusgrade. Willkommen in Harbin: So steht es in Eis gemeißelt schon an der Straße vom Flughafen ins Zentrum nordchinesischen Kältemetropole. Tut sich die Frage auf, ob das Willkommen nur in der Frostperiode gilt. Fakt zumindest ist, dass in der kältesten Zeit des Jahres zehn bis 15 Millionen Touristen einen warmen Geldsegen in die Kassen der Hauptstadt der Provinz mit dem klangvollen Namen Heilongjiang, was so viel heißt wie schwarzer Drachenfluss, strömen lässt.
Heute trägt der Fluss Songhua Jiang, ein Nebenfluss des Heilongjiang (der Provinzname gefällt mir so gut, ich muss ihn einfach mehrfach schreiben) weiß, kaltes Weiß. Wir tragen mehrere Lagen Kleidung. Die oberste Schicht wird sonst nur zum Skifahren herausgeholt. In den gefütterten Stiefeln stecken kleine Wundertüten, gefüllt mit allerlei Chemie, die beim Schütteln Wärme verströmen. Ausflugsboote stecken festgefroren am Anleger. Der Schnee, der weite Teile der Eisfläche bedeckt, ist staubtrocken, was das Ausfechten einer Schneeballschlacht zum Bedauern des jüngsten Teils unserer dreiköpfigen Reisetruppe be- ja sogar verhindert. Der Spaß bleibt dennoch nicht auf der Strecke. Denn auf dem eisbepackten Songhua Jiang (klingt auch sehr melodisch, nicht wahr?) zeigt sich wieder jene Dynamik, mit der uns das Volk der Mitte künftig meilenweit abhängen wird.
Drei Mal schon habe ich unseren Heimatfluss, die Alster, binnen wie außen zugefroren erlebt. Drei Mal schritten die Hamburger würdevoll über ihr Hausgewässer, manche taten sich Schlittschuhe an, manche schlürften schlechten Glühwein an den Ufern und alle zusammen feierten die vorgeblich schönste Stadt der Welt. Und wo bleibt der Spaß? Harbin macht es vor. Familien mieten sich hochbequeme Schlitten und staksen mit spitzen Stöcken (sprecht das bitte mal in Helmut-Schmidtschen Hamburgisch aus) über das Eis. Hochbequem sind die Gleiter, weil ein bis drei echte Stühle, sie erinnern an Schulmobiliar der späten Siebziger, auf Metallschienen geschweißt wurden. Majestätische Haltung und bequemes Auf- und Absteigen zeichnen die Gefährte aus. Lautes Lachen wärmt das Herz in kühler Luft.
Selbst neumodischer Funsport hat in Harbin seinen Platz. Mit Zorbingkugeln geht es künstliche Schneehubbel von Maulwurfshügelgröße hinauf und hinab oder man setzt sich in einen LKW-Schlauch uns lässt sich mit Höllenlärm – Motor, Lastwagenhupe und Schneeketten – gruppenweise von einem Allräder über den Fluss ziehen. Großfamilien dürfen … Halt! Die gibt es in China leider nicht! … also größere Gruppen, etwa Arbeitskollegen dürfen sogar das vom All-inclusive-Urlaub bekannte und beliebte Banana-Boat wählen. Wem das zu laut, zu motorisiert, zu technisch ist: Der schnellste Weg von der Kaimauer auf die gefrorene Wasseroberfläche führt durch den Eiskanal. In der Sonne glitzernd wie Glasbausteine – darum nenne ich sie ab jetzt im Sinne der deutsch-französischen Freundschaft und der schönen Phonetik wegen Glace-Bausteine – haben die Harbiner aus Eisblöcken Rutschen aus purem Eis errichtet. Aufgesessen! Mit einem kräftigen Fußtritt befördert einer der zahlreichen Helfer den archaisch-praktisch zusammengeschweißte Metallschlitten in die Spur und ab geht es mit Hackl-Feeling und immenser Beschleunigung nach unten. Könnte süchtig machen. Ach so: Schlittschuhe gibt es auch, Glühwein leider nicht.
Die Dämmerung bricht herein und wir auf. Schnell noch ein paar Fußwärmer nachgelegt und auf zur Eisstadt. Unsere lieb gewonnenen Gewohnheiten aus Shanghai müssen wir ablegen. Hier will jeder Taxifahrer seinen Pauschalpreis vorab verhandeln. Unser Shifu ist gnädig, für 200 Kuai verspricht er, auf uns zu warten. Und das wird er tun müssen. Deutlich länger als geplant; denn die Stadt aus Eis ist eines der heißesten Dinger, die man in China erleben kann. Chineisch-effizient die Eingangshalle mit dem landesüblichen Prozedere: Schlange stehen, Karten kaufen, Schlange stehen, Taschenkontrolle, Schlange stehen, Einlass ins Eis-Paradies.
Vielleicht ist Paradies sogar wörtlich zu nehmen. Denn hier stehen auf engstem Raum Tempel gängiger Weltreligionen, seien sie von Buddha, Jesus, Konfuzius oder Mohammed (in alphabetischer Reihenfolge) gestiftet. Um die Vergänglichkeit allen Seins zu demonstrieren, bestehen sie aus blankem Eis, so als gelte der Satz „Aus Wasser bist du und zu Wasser sollst du wieder werden“. Doch genug der Theologie: Lasst uns die Bauten berühren, bewundern und besteigen! Praktischerweise vertrauen die Baumeister, die hier zusammen 333 000 Kubikmeter Eis verbaut haben, nicht auf Gottes Gnade, um Ausrutscher beim Aufstieg zu verhindern, sondern haben die ursprünglich gläsern glitzernden Eistreppen mit Auslegware belegt. Das macht den Boden zwar häßlich grau. Sorgt aber für festen Stand, um immer aufs Neue von den gefrorenen Meisterbauwerken, egal ob Kirche, Pagode oder Moschee, fasziniert zu sein.
Unbeschwerter Genuss also? Nun ja. Statt das majestätische Weiß und Silber des Materials wirken zu lassen, sind bunte Leuchtmittel in nahezu jedem Glace-Haus verbaut. Grellgrün, schreiend Lila, Schwimmbadtürkis, Glück verheißendes Rot: So zeigen sich die Bauten und verwirren das Auge des einen und erfreuen das Auge des anderen Betrachters. Das unschuldige Weiß des 20 Meter hohen Riesenbuddhas und der hunderte von Metern langen chinesischen Mauer steigert die innere Harmonie mehr als die pissgelbe Prachttreppe, die zum Märchenschloss empor führt.

Doch genug geguckt und rein ins Vergnügen! Wir erwerben für 20 Kuai einen lilafarbenen Porutscher und sausen abwechselnd die zahlreichen Eisrutschen hinab. Keinen Meter breit sind die Kanäle aus Glace-Bausteinen, kalt weht der Fahrtwind ins Gesicht und das kratzende Geräusch des Primitivschlittens in der Bahn steigert die Geschwindigkeit gefühlt um das Doppelte. Die Knie zusammen halten, damit sie nicht an die Seitenwände stoßen und das Tempo nachlässt. Schade, dass das alles so schnell vorbei ist.
Rasant schreitet auch unsere Zeit in der Eisstadt voran. Kurze Pause und Aufwärmen mit Dumplings, Hamburgern, Pommes und lauem Bier (der Marke Harbin Snow natürlich), noch ein bisschen Schnee- und Eisspaß bei den Abfahrten mit Reifen, Rutschteil und auf der blanken Skihose und dann nach Hause, zusammen mit den Pferdeschlitten, die bimmelnd und blinkend ihren Heimweg antraten, nachdem sie den ganzen Tag den Hauch von St. Petersburg verbreitet hatten. Harbin ist schließlich russisch geprägt. Bis in die neue Eiszeit hinein.
Begonnen hat das Ganze 1964, als im innerstädtischen Zhaolin Park die ersten Eisskulpturen zur Kinderbelustigung geschnitzt wurden. Putzige Phantasiewesen, lebensechte Tierfiguren und grimmige Götter säumen seither Jahr für Jahr die Wege. Mauern aus Eis formen chinesische Gärten – inklusive kristallener Pavillons. Im ersten Licht des Tages, wenn kaum einer schon unterwegs ist, verwandeln die kalt schimmernden Kunstwerke den Park wie eine fernöstliche Eisversion von Klingsors Zaubergarten – nur das Kundry hier mandelförmige Augen hat. Doch das Eis aus Chinas Norden dient in Harbins Zentrum auch viel profaneren Zwecken: Bierdosen und Wasserflaschen, Handys und Autos und nicht zuletzt ein fünf Meter hoher Eisbär werben – aus Eis geschnitten und gepresstem Schnee gekratzt – dreidimensional für Produkte von Huawei und den Minions bis zu Ford und Coca-Cola.
Sollte das alles noch zu toppen sein? Ja. Die Kunstwerke aus gepresstem Schnee schlagen optisch alles. Diesmal sagt das Bild mehr als zehntausend Worte, denn die reinen Titel sagen wenig über die Faszination die von den kalten Kreationen ausgeht, egal ob der Schöpfer sie kubistisch, expressionistisch, sozialistisch-realistisch oder schlicht komisch erschaffen hat. Die Pinguine aus Madagaskar teilen sich die riesige Freifläche mit einem Piratenschiff, edlen Rössern, die gen Himmel streben, pfeiferauchenden Herren und sozialkritischem wie der Neujahrsmaschine, dem Zauberspiegel und der Landidylle aus vergangenen Zeiten. Da auch kühler Kunstgenuss der Abwechslung bedarf, kann auch hier gerutscht werden. Bis der Po-Rutscher das Vergängliche allen Seins in Erinnerung ruft. Knackend zerfällt das lilafarbene Plastikdingens in seine Einzelteile, wir machen uns auf den Heimweg und in nicht allzu ferner Zukunft löst sich die Eisstadt wieder in ihre Ursprungsform, Wasser, auf.

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert