Der lange Marsch zum chinesischen Führerschein

„Aber du hast doch gar kein Auto …“ Für mich als Führerscheinaspiranten sehr aufmunternd, dieser Spruch, den ich mehr als einmal hören durfte. Etwas nervös erklimme ich an diesem sonnigen Freitag um 9.30 Uhr die stählerne Außentreppe des Verkehrspolizeigebäudes in der Hami Lu. 15 Computerterminals reihen sich an drei Wänden des schmucklosen hell getünchten Raumes auf. An der vierten warten in einem Glaskasten zwei gelangweilt wirkende Straßenverkehrsbehördenbeamtinnen, die meine Papiere entgegennehmen. Die Atmosphäre gleicht der eines Internet-Cafés des vorigen Jahrtausends. Der vor dem Glaskasten wichtig paradierende Herr in Uniform assistiert. „Language?“ „German. Deguo.“ Er weist mir Terminal 11 zu. 100 Fragen führen zum chinesischen Führerschein, 90 davon muss ich richtig beantworten. In 45 Minuten. Macht 30 Sekunden pro richtiger Antwort. Ich starte den Test. Manche Fragen erwarten ein „falsch“ oder „richtig“ als Antwort, manche eine von vier Lösungsmöglichkeiten. Los gehts!

„Ampeln haben ein roten, grünes und gelbes Licht.“ Richtig. Ist ja echt einfach. „Kraftfahrzeuge auf der Straße brauchen ein Nummernschild.“ Auch richtig. Wenn das so weitergeht … „Wenn der Fahrer Punkte am Ende eines Zyklus übrig hat und seine Geldstrafen nicht bezahlt wurden, werden die Punkte in die (sic!) nächste Zyklus übertragen.“ Hätten Sie es gewusst? Ist natürlich richtig. Es geht um die Strafpunkte für Verkehrsvergehen, die – wie im Flensburger Register – kumuliert werden, wenn für die Knöllchen nicht gelöhnt wurde.

Angesichts des beobachteten Verhaltens im Shanghaier Verkehr wundert mich zwar, dass auch Telefonieren und Fernsehen am Steuer illegal sind. Vielleicht gleichen die Verkehrsteilnehmer das mit den „technischen Fähigkeiten, guten Fahrgewohnheiten und einer moralischen Einstellung, die ein qualifizierter Fahrer besitzen sollte“ aus. Im Ernst: Das gehört alles zu den 1300 Prüfungsfragen, die ich mir vorab per Handy-App („Drive in China“, 1,99 Dollar über iTunes) ins Hirn gestopft habe. Dies waren übrigens meine Lieblinge:

Bei Schülern die die Straße überqueren wollen, sollte der Fahrer …
a) Halten Sie an der Linie
b) Kontinuierlich hupen
c) Geschwindigkeit reduzieren und langsam durchfahren
d) Beschleunigen bevor sie passieren
Nein, man darf weder hupen noch beschleunigen. Antwort a) ist gewünscht. Und wer sich immer wieder wunderte, mit welch traumwandlerischer Sicherheit sich Shanghais Automobilisten durch die Fußgängermassen bewegen, sollte sich folgende Aufgabe auf der Zunge zergehen lassen:

Was ist die wichtigste Eigenschaft von Fußgängern im Straßenverkehr?
a) Sie sind unsicher
b) Sie laufen herum und ändern willkürlich die Richtung
c) Sie sind träge
d) Sie versammeln sich schnell zu einer Menschenmenge
Antwort b). Logisch, oder?

Doch vor dem Gang in den offiziellen Fahrprüfungscomputerraum haben Shanghais Behörden einen kleinen Hindernislauf vorgesehen. Zum Beispiel den Besuch bei der Shanghai Interpreters Association in der Beijing Lu Höhe Exhibition Center. Dort sind hinter einem viel zu hohen Tresen eifrige kleine ältere Damen damit beschäftigt, Dokumente zu übersetzen. Eine halb intellektuelle Fließbandarbeit, routiniert und mit 60 Yuan für die Übertragung des deutschen Führerscheins in Shanghai nicht einmal teuer – und erfreulich schnell.Denn von jetzt ab wird der Prozess der Führerscheingewinnung rasant entschleunigt. Schon mal auf der Hami Lu zwischen Jinbang und Kele Lu im Stau gestanden? Dort ist die Einfahrt der Straßenverkehrsbehörde. Zulassungs- und Führerscheinstelle haben regen Publikumsverkehr. Sei’s drum, es werden Nummern ausgegeben, es gibt einen eigenen Schalter für Ausländer, die unbedingt in China selbst fahren wollen, und nach einer schlappen Dreiviertelstunde bin ich dran. Daten werden erfasst, Kopien geprüft, die übliche Bürokratie eben. Entspannen und lächeln. Wie auf dem Foto, das in einem anderen Gebäude aufgenommen wird. Die Einrichtung gleicht der des alten Frankfurter Polizeipräsidiums, Muffgeruch inklusive. Der Fotograf ist routiniert und auf alles vorbereitet. Mein Hemd ist zu hell, ich möge mich doch bitte bei den bereit hängenden dunklen Jacken bedienen. Gerne. Die Brille spiegelt. Man hält auch glaslose Gestelle zum Tausch vor, denn ein Brillenträger muss im Führerschein mit Brille abgebildet sein. Die zugegebenermaßen gelungenen Fotos – wenn man sie mit den Mugshots auf den Lizenzen der Taxifahrer vergleicht – in der Hand geht es ein Stockwerk höher. Medical Check.

Irgendwie kommen mir Ambiente und Anmutung bekannt vor. Richtig. Das Kreiswehrersatzamt Eschborn aus den späten Siebzigern. Inklusive des höflich distanzierten weißbekittelten Personals. Größe, Gewicht, Blutdruck, Puls. Alles Okay. Die beiden Zeichen für Okay – zhengchang – werden auch in die Rubrik rechter Oberkörper, linker Oberkörper, rechter Unterkörper und linker Unterkörper eingetragen. Die Ärzte tragen ihre Kittel offen, wie weltweit üblich, und haben also per Augenschein festgestellt, dass ich zwei Arme und zwei Beine habe. Mit Fingerhanteln wird getestet, ob meine Kraft zum Lenkraddrehen reicht (tut sie). Farbenblindheit, Sehstärke, alles kein Problem. Nur beim Hörtest macht mein fast taubes linkes Ohr der Ärztin für Bedenken. Durchgefallen. Ich muss zu einer Nachuntersuchung zu einer anderen Stelle, die leider nur Mittwochvormittags auf hat. Was soll’s. Immerhin ist es doch schön, wie gründlich jeder Führerscheinaspirant hier gecheckt wird, während in Deutschland nur halb blind, ganz blind oder sehend als medizinische Tauglichkeitskategorien üblich sind.

Es war wieder ein schöner sonniger Tag, als ich irgendwo im tiefsten Minhang durch einen kaum wahrnehmbaren Eingang im Innenhof eines grauen Bürogebäudes gelotst wurde. Ob die Untersuchungsräume jemals bessere Tage gesehen hatten, seit sie vor gefühlt 60 Jahren eingerichtet wurden, kümmerte mich nicht, ich wollte nur meinen Führerschein in Shanghai haben. Glücklicherweise fanden die beiden Ohrenärzte unter Einsatz überdimensionaler Stimmgabeln, dass nichts dagegen spricht.
So landete ich dann eine Woche später um 9.45 Uhr – es werden Termine mit exakter Prüfzeit vergeben – im zweiten Stock der Hami Lu vor dem Computer im höchst offiziellen Internet-Café der Prüfbehörde. Saß schon 25 Minuten vor dem Rechner und hatte alle 100 Fragen beantwortet, noch einmal kontrolliert und sogar gewusst, dass „Frauen mit Stöckelschuhen keinen Beitrag zum sicheren Fahren leisten“. Die Übersetzung der Prüfung ins Deutsche war übrigens hervorragend und ich möchte jedem Nachahmer unbedingt dazu raten, diese Option wahrzunehmen. Ich drücke auf „Prüfung abschließen“. Wenige Sekunden Spannung. 95 von 100 Fragen richtig! Bestanden. Auf großen Jubel verzichte ich mit Rücksicht auf meine Mitprüflinge und hole mir meinen grünen Schein ab. Isch ‘abbe abber immer noch keine Auto.

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert