Tim und Struppi bei Tschang in Shanghai

Kennt Ihr Zhang Chongren? Nie gehört? Kennt Ihr Tim und Struppi? „Der blaue Lotos“? Gründlich? Dann kennt Ihr auch Zhang Chongren. Der Tim-und-Struppi-Zeichner Hergè hat den Shanghaier Künstler nämlich in der Figur des Waisenjungen Tschang verewigt, der gemeinsam mit Tim und Struppi die Bösewichte besiegt. Aus Dankbarkeit; denn Zhang Chongren, seinerzeit Kunststudent in Brüssel, unterrichtete Hergè über China. Damit sorgte Zhang dafür, dass sich der Comic-Zeichner vom rechtsnationalen Dumpfbacken-Rassismus seiner absolut ungenießbaren ersten Tim-und-Struppi-Bände – wie das widerwärtige „Tim im Kongo“ – abkehrte. Fortan ging Hergè etwas sensibler mit den Ländern um, in die er Tim verschickte.

Warum erzähle ich das alles? Weil es in Shanghai ein kleines Museum gibt, das an Zhang Chongren, sein Werk und seinen Einfluss auf Hergè erinnert. Es ist ein wenig versteckt gelegen, im Stadtteil Qibao. Dort, wo Shanghai nicht wie Shanghai aussieht, sondern aussieht, wie Shanghai einmal aussah. Höchstens zweistöckige alte und auf alt getrimmte Häuser säumen die schmalen Gassen. Viel Holz ist verbaut, schnörkeliges Fachwerk ziert Türen und Wände, in kleinen Läden gibt es den üblichen Souvenir-Krimskrams – Qibao, Stadt der sieben Schätze, ist beliebtes Ausflugsziel. Wie sieht es eigentlich hinter den Fassaden aus? Das Museum mit dem sperrigen englischen Namen The Memorial Hall of the Artist Zhang Chongren gibt Antwort. Das Gebäude ist um einen schattigen Innenhof gebaut. Sorgsam angeordnete Pflanzen tupfen sattes Grün vor das dunkel lasierte Holz vom Arkaden und Galerie, die den Hof säumen. Die Räume sind klein und berichten vom Leben des Künstlers, der als Waisenkind aufwuchs – wie sein alter Ego im „Blauen Lotos“. Sein Aufenthalt in Europa, seine Begegnung mit Hergè und den Einfluss seiner Malerei auf die Illustrationen im Tim-und-Struppi-Band werden gezeigt. In der Volksrepublik zeitweise verfemt und zum Straßenfeger degradiert, beginnt in den 70er-Jahren die zweite Karriere: Francois Mitterand saß ihm für eine Büste Modell, ebenso, natürlich, sein Freund Hergè.

Und auf dem kleinen Platz und in den Gassen rund um das Museum herrscht eine Atmosphäre wie wohl im Shanghai der 30er-Jahre. An zahlreichen Ständen brutzeln scharf gewürzte Tintenfische auf Spießen, werden im Salzteig gebackene Wachteleier verkauft, in einer Seitengasse sehen Enten, Gänse und Hühner mit zusammengebundenen Füßen ihrem Schicksal entgegen. Der massive hölzerne Schlachtbock steht bereit, der Metzger schärft gerade noch sein Beil. Auf dem Kanal rudern alte Frauen Touristen auf und ab, die Ruder mit den Füßen bedienend und so kraftvoll, das zehn Mann im schweren hölzernen Boot kein Problem sind.

Im Teehaus stärkt eine Ladung xiaolangbao, typisch Shanghaier Teigtaschen mit dünner Hülle und deftiger Füllung, der grüne Tee wird zum Selbstaufbrühen und Abseihen mit zwei Glaskännchen und einer Thermoskanne heißen Wassers serviert. Ist das nicht Tschang mit der verwegenen dunklen Tolle, der da um die Ecke saust? Auf der Anping-Brücke steht eine junge Frau im altchinesischem Gewand und läasst sich ablichten. Malerisch ist die Kulisse und das moderne Gesicht Shanghais so fern. Wer mehr über die Vergangenheit wissen will, geht in die historische Baumwollspinnerei oder in das Haus der historischen Berufe, wo detailgetreu Szenerien von früher nachgebaut sind. Höchst aktiv sind noch die Küfer, die in ihren zur Straße hin offenen Läden sägen und hobeln und sogar hölzerne Badewannen tischlern. Schattenspieler führen von Musik begleitete Stücke mit an Stäben geführten Puppen auf. In Qibao seit hunderten von Jahren Tradition.

Auch einer anderen, für Europäer eher exotischen Kunst, oder soll ich es Sport nennen, ist in dem kleinen Städtchen in der Megacity ein Museum gewidmet. Das Cricket House. Cricket ist hier weder das britische Schlagball noch das durch-Tore-auf dem-Rasen-Hauen. Cricket heißt auf deutsch Heuschrecke. Und in Shanghai gibt es bis heute Heuschrecken-Kämpfe. Im Museum sind in liebevollem Arrangements Kampfheuschrecken, ausschließlich Männchen, gezeigt, Transport- und Kampfkäfige. Übrigens enden die Kämpfe weniger blutig als Hahnen-, Hunde- oder Stierkämpfe. Gewonnen hat die Schrecke, die ihren Gegner dermaßen schreckt, dass dieser feige die Fühler einzieht.

Die Beschreibung Qibaos wäre nicht vollständig, wenn ich nicht noch auf die kleinen Läden für Kalligrafie-Bedarf hinweisen würde. In eng bestückten Regalen lagern Papiere jeder Art, dazu Pinsel und Steinstempel in gigantischer Auswahl: Für Freunde gepflegter chinesischer Handschrift ein wahres Paradies.

Wo ist eigentlich der Junge mit der feschen Tolle geblieben, der mich so an Tschang erinnert hat? Vielleicht unterwegs nach Tibet, wo ihm Tim und Struppi in einem späteren Band begegnen.

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