“Starkes Land und reiches Volk” – Maos Dolmetscher Zhou Chun

Zhou Chun hätte allen Grund zum Hass. Zum Hass auf die chinesische Regierung, der er 22 Jahre Gefängnis und Straflager zu verdanken hat. „Ich war 30, als ich eingesperrt wurde.“ Aber der 87-jährige hasst nicht. Er sagt nur lapidar, dass er einfach Pech hatte, als er 1955 zum Rechtsabweichler erklärt wurde.
Gespannte Stille herrscht im Auditorium der Deutschen Schule Shanghai, als Zhou Chun aus seinem bewegten Leben erzählt, befragt von meinem Sohn Paul und dessen Mitschülerin Lisa. Die 16- und 17-Jährigen wollen wissen, wie das Leben in Shanghai war, als Zhou ein Teenager war. „Wir Chinesen waren in Shanghai die Sklaven von Sklaven.“ In den ausländischen Konzessionen hätten die Engländer Inder als Polizisten mitgebracht, die Franzosen Vietnamesen, ihre “Sklaven”. „Und wir standen noch unter denen.“
Zhou besucht Deutschkurse, ehe er als junger Mann in den Kampf gegen die Japaner zieht. Nach Kriegsende und Gründung der Volksrepublik wird der Sprachbegabte im Außenministerium Dolmetscher für Deutsch und Englisch. Er übersetzt für Mao Zedong und Zhou Enlai. „Auch simultan“, wie er stolz betont. Wie Mao als Mensch war wollen die beiden Oberstufler wissen, die mit ihrer Klasse den Besuch des früheren Deutsch-Professors vorbereitet haben. Zhou lehnt sich zurück und zögert einen Moment. „Mao war der Sohn eines Bauern, er konnte sich gut in die einfachen Leute hineinversetzen.“ Und er ergänzt mit einem Lächeln, dass wir an diesem Abend noch öfter sehen, dass es nicht immer einfach war, den Hunan-Dialekt des Großen Vorsitzenden zu verstehen. „Mao sprach eigentlich kein richtiges Chinesisch.“
In Ungnade fällt Zhou, als die Partei zur Selbstkritik aufruft und er den Aufruf ernst nimmt. „Dabei diente die Aktion nur dazu, Abweichler zu erkennen.“ Oder, wie Mao selbst es formuliert „die Schlangen dazu zu bringen, ihre Köpfe aus den Höhlen zu stecken“. Weil es auf Beschluss der Partei hin fünf Prozent Rechtsabweichler geben muss, landet Zhou – auch wegen seiner bürgerlichen Herkunft – im Gefängnis. „Pech.“ In Gefangenschaft wird er nicht misshandelt, darauf legt der alte Mann mit dem langen Bart und den wachen Augen Wert. „Mao hatte zu dieser Zeit Folter verboten.“
Was ihn dann 1988, Jahre nach seiner Entlassung nach Deutschland geführt habe? „Niemand wollte mir glauben, dass ich noch nie dort war“, schmunzelt er, der die deutsche Sprache perfekt beherrscht. Er landet in Mannheim, später in Berlin, wird Professor an der Universität und heiratet Marianne, eine Deutsche. Mauerfall und Wende verfolgt er im Fernsehen. „Ich mag keine Menschenmengen.“ In Deutschland bleibt er auch, weil er nicht einschätzen kann, wie sich die Ereignisse vom Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens auf die Lage der Intellektuellen – und damit auch seine – auswirken.
Erst 2002 kehrt er in seine Heimatstadt Shanghai zurück. „Ein altes Sprichwort sagt, dass das Laub auf die Wurzeln zurückfällt.“ An Deutschland schätzt er das Sachliche, an China das Menschliche, auch ein Grund, zurückzukommen. Die moderne Stadt sieht er zwiespältig. „Warum muss alles so aussehen wie in Amerika? Haben wir nicht eine eigene Kultur? Müssen sich die jungen Leute ihre Vorbilder nur dort suchen?“ Der Stolz auf China klingt immer wieder durch, trotz allem, was er durchgemacht hat. „Wir müssen ein starkes Land und ein reiches Volk werden.“ Ein beeindruckender Auftritt eines beindruckenden Menschen, der mit seiner Gelassenheit und seinem Humor lehrt, dass Versöhnung und Vergebung – nicht Vergessen – besser sind als Hass und Trauer.

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