Chum Mey sitzt über einer Schüssel Reis an einem kleinen Tisch unter einem Baum am Zaun des Schulgeländes. Schulgelände? Ja. Das berüchtigte Foltergefängnis S-21 an der 103. Straße in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh war vor der Zwangsräumung der Stadt durch die Roten Khmer 1975 ein Gymnasium. Chum Mey kam 1978 hierher. Warum? Das weiß er selbst nicht. Als einer von sieben Häftlingen hat er Tuol Sleng überlebt, mittlerweile sind fünf von ihnen gestorben, außer Chum lebt heute nur noch der Maler Bou Meng. Paul und ich haben die Autobiografien der beiden am Ende unseres Rundgangs durch das Gefängnis für zehn Dollar erworben. Unser Guide hatte uns den Kauf nahe gelegt.
Zuvor hat er uns mit nüchternen Worten durch den Ort des Grauens geführt. Beginnend mit den Folterräumen, ehemaligen Klassenzimmern. Eiserne Betten, ein Schreibtisch, ein Stuhl. An der Wand ein großformatiges Schwarzweißbild. Ein blutiger Leichnam. So haben vietnamesische Truppen den Ort vorgefunden. Den letzten 14 Gefangenen wurden die Kehlen durchgeschnitten, ehe sich die Schergen des Rote-Khmer-Regimes nach dem Einmarsch der Vietnamesen 1979 aus dem Staub machten. Die 14 haben auf dem Schulhof ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Tausende andere Gefangene, die Schätzungen sagen zwischen 14 000 und 20 000 wurden nachts mit verbundenen Augen auf chinesischen Lastwagen von hier zu den Killing Fields nach Choeung Ek, 17 Kilometer vor der Stadt gelegen, gebracht und erschlagen. Kugeln waren zu teuer. Paul und ich waren auch dort. An den Massengräbern, wo noch heute jede Regenzeit Knochen, Zähne oder auch Fetzen von Kleidungsstücken freilegt. Grube ausheben, an den Rand knien bis die Hacke, die Achse oder irgendein anderes Werkzeug auf den Schädel saust. Auf den 5000 Schädeln in der zentralen Gedenkstätte der Anlage ist die mutmaßliche Tatwaffe mit einem farbigen Punkt angezeigt. Rot für Achse, orange für Schaufel, grün für Hammer und so weiter. Im Geäst der Bäume des früheren Obstgartens hingen Lautsprecher. Revolutionslieder dröhnten durch die Nacht, um die Schreie der Sterbenden zu übertönen. Ein dicker Baum diente als „Killing Tree“. Dort wurden die Kinder der Delinquenten ermordet. Der Rote-Khmer-Führer Pol Pot, von 1975 bis 1979 „Bruder Nr. 1“, hatte es so befohlen. „Wenn man Unkraut jätet, muss man es mit der Wurzel herausreißen“, so sein Edikt zur Sippenhaft, der auch Chum Meys Familie zum Opfer fiel.
In Tuol Sleng gab es, wie unser Guide berichtet, drei Formen der Unterbringung. Die schwächsten wurden in den Klassenräumen liegend aneinander gekettet. Wer noch kräftiger war, kam in eine Einzelzelle, zwei Meter mal 80 Zentimeter, roh gemauert.
Schließlich gab es noch Zellen mit Holzwand und Tür. Jeder Häftling besaß eine schuhkartongroße Munitionskiste diente als Toilette. Chum Mey wurde gefoltert, tagelang, bis seine Fähigkeiten gebraucht wurden. Foltern und töten war bürokratisiert, die Insassen wurden fotografiert, katalogisiert und die Geständnisse ordentlich protokolliert. Der fingerfertige Mechaniker hielt fort an die Schreibmaschinen der Täter instand, auch die Nähmaschinen für die Uniformen reparierte er.
Chum Mey war Mechaniker, Bou Meng Maler. Sein Job war es, Pol Pot zu malen, immer vom selben Foto. Der sich lange Zeit vor der Öffentlichkeit versteckt haltende Revolutionsführer plante wohl einen Personenkult à la Mao. Da mussten Bilder für die Amtsstuben her und Bou malte sie. Hätten die Gemälde nicht exakt dem Foto geglichen, hätte Bou auch den Weg zu den Killing Fields antreten müssen – wie seine Frau, die dort ermordet wurde.
Die offenen Gänge vor den Klassenzimmern sind mit Stacheldraht gesichert. Nicht nur gegen Ausbrüche, auch gegen Selbstmorde. „Sie standen sogar unter Strom“, sagt unser Führer. Auf dem Schulhof, wo früher die Schüler an Ringen turnten, wurden Häftlinge gefoltert, ihre Köpfe langsam in große Tonkrüge gesenkt, bis kurz vorm Ertrinken. In den Folterräumen wurde jede denkbare Methode angewandt, Menschen großen Schmerz zuzufügen. Dabei war immer Regel Nummer sechs der Lagerordnung zu beachten: „Es ist verboten, während der Folter zu weinen.“ Auch Bou Meng und Chum Mey haben schließlich irgendetwas „gestanden“ und Protokolle unterschrieben, ehe ihre Fähigkeiten sie retteten.
Unser Führer fragt, ob er ein Foto von uns mit Chum Mey machen soll. Wir zweifeln. Doch der kleine Mann ist schon von seinem Mittagessen aufgestanden. Er hat gesehen, dass wir sein Buch in der Hand halten. Der 84-jährige setzt sich hinter den Büchertisch, bittet uns, rechts und links von ihm Platz zu nehmen. Ja, in Deutschland sei er auch schon zweimal gewesen. IIn Berlin, einmal zu DDR-Zeiten und einmal nach der Wende. Sein Eindruck? Er reibt Hände und Arme aneinander und klappert mit den Zähnen. „Es war sehr kalt.“ Der Überlebende lächelt. Nicht nur für das Foto.